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Was hat Mystik, Esoterik und Theosophie in der Kirche verloren? – Ein Brief

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St.Gallen, 26.7.2002

Sehr geehrter Herr Wehr

Es sind Sommerferien. Ich habe mir erlaubt, alleine daheim zu bleiben, um nicht zuletzt auch mein weiteres „religiöses Engagement“ zu bedenken.
Ich habe Theologie studiert, war während sechs Jahren Pfarrer in einer Toggenburger Landgemeinde und bin nun seit 6 Jahren Redaktor des St.Galler Kirchenboten. Das ist eine schöne und vielseitige Arbeit, die ich mit Hingabe ausführe.
Um einiges mehr als im Pfarramt bin ich hier öffentliche Person. Was ich leiste, ist vielen vor Augen. So kommt es, dass ich trotz der 70%-Anstellung kaum zu viel anderem komme. Ein Zweitstudium in Philosophie, Soziologie und Publizistik habe ich vor vier Jahren nach meiner Heirat abgebrochen, verschiedene Versuche, mit einer Dissertation zu beginnen, blieben liegen.

Gerne hätte ich das Thema meiner theologischen Schlussarbeit über Ignaz Paul Vital Troxler als Dissertation weiter geführt. Troxler wollte der religiösen Erkenntnis und den Glaubensdimensionen über die philosophische Anthropologie eine neue Zukunft innerhalb des universitären Wissenskosmos geben. Er verstand sich als Chilliast, als Künder des Zeitalter des Geistes. Und was mich an dem Mann beeindruckt, ist seine pragmatische Kraft als Arzt, als Politiker, Lehrer und Kämpfer für die Pressefreiheit. Also kein weltfremder Mystiker, sondern Zeitgenosse mit einer leuchtenden Mission für eine neue Stufe des menschlichen Selbstverständnisses im privaten und öffentlichen Leben. Er lebte als Schellingschüler in einer Zeit, in der er noch die auseinanderfallenden Wissenschaften zusammenschauen konnte. Sie gründen für ihn alle in der Philosophie, welche er in seiner Metaphysik und Logik (1830) so innig mit dem ganzen Wesen des Menschen verbunden sah, dass er von einer Anthroposophie sprechen konnte, von einer kontemplativen Zentralwissenschaft, welche den Menschen umfassend mit seiner Welt verbindet: nach unten mit der Sinneswelt, nach oben mit der in Gott verborgenen Menschheit, nach hinten mit der Tradition und nach vorne mit der teleologischen Mission der praktischen Berufe in Leben, Kultur, Politik usw., Sein Denken mündet in eine Philosophie, die sich im Logos des johanneischen Christentums wieder finden kann, immer aber mit dem Anspruch einer allgemeinen, humanen, freien Erkenntnis, die das Wirken der Kirchen nicht ersetzt, aber den Kern der christlichen Kunde in die neue Gesellschafts- und Wissenschaftsordnung hineinträgt, welche nach den Wirren der Revolution sich dank der Emanzipationsbestrebungen der Reformation und der Aufklärung damals zu etablieren begann.

Es rührt an ferne, seltsame Sehnsüchte, wenn ich mich dieses philosophischen Enthusiasmus entsinne. Es war ja damals bei den grossen Umwälzungen wirklich vieles offen. Und ich vergelle es diesen kometenhaften Gestalten nicht, dass sie für unsere heutige Sicht über den Tellerrand hinaus geschaut haben auf eine mögliche Zukunft, in welcher dem Menschen vieles zugetraut wurde. Noch als 80-jähriger, als Troxler längst den Atheismus in der Wissenschaft und Politik seine Unordnung anrichten sah, schrieb er an die Basler Universität: „Was kann da rathen und helfen, was die Gesellschaft retten als der rationale und moralische Menschengeist, wenn er wieder als die grösste Grossmacht von Gottes Gnaden auf Erden anerkannt und Wissenschaft und Glaube wieder, von den Banden usurpierender Herrschaft befreit, in ihr göttliches Reicht eingesetzt weden!“
Meine damalige Schlussarbeit aus dem Jahr 1987 trägt den etwas provozierenden Titel: „Christus, Grundstein auch der Wissenschaft – ein Versuch, die Versöhnung der Religion mit dem modernen Bewusstsein anzustreben, ausgehend von der philosophischen Anthropologie, wie sie J.P.V. Troxler den Freunden der Philosophie und der strebsamen Jugend widmet und zur Übung empfiehlt.“ Ich habe dort schon teilweise versucht, das Anliegen Troxlers mit der gegenwärtigen Philosophie und Theologie ins Gespräch zu bringen. Im Wesentlichen aber blieb es bei einer Darstellung der Troxlerschen Gedanken, wie er sie im Gespräch mit seiner Zeit entfaltet hat.
Mein Zweitstudium sollte mich darum noch zu vertiefter Kenntnis der heutigen Situation der Wissenschaften bringen. Ich habe mich vertieft mit der Anthropologie von Gehlen und Scheler auseinander gesetzt, mit Hegel und Kierkegaard, mit den Diskussionen um politische Theologie u.s.w. Aber nicht nur die Philosophie, auch in den einzelnen Wissenschaften, laufen soviel Spezialdiskussionen ab, soviel Kongresse, Veröffentlichungen, neue Ansätze und Schulen. Ich habe mich auf der Suche nach Gesprächepartner oder Anknüpfungspunkten verloren. Ich wurde mehr zum Sammler statt zum Leser von Büchern, Artikeln und Texten, sodass ich das viele Papier als Last empfinde. Die wissenschaftliche Arbeit über Troxler blieb bis jetzt ein Programm.
In dem Wunsch, das akademische Arbeiten damit nicht ganz aufzugeben, begann ich mich vor zwei Jahren mit einer neuen Variante zu beschäftigen, angeregt von einem Pfarrkollegen, der seine Habilitation über die „Citykirchen“ schreibt, über das, was er in St.Gallen selber aufgebaut hat. Sein Professor in praktischer Theologie ermunterte auch mich, das wissenschaftlich zu reflektieren, was ich arbeite. Das sei realistisch und machbar, wenn man berufstätig sei. So wäre mein neues Thema etwa dies: Publizistik als Zweig der praktischen Theologie. Viele meiner Erfahrungen als Kirchenboten-Redaktor kämen mir hier entgegen, viele Materialien habe ich gesammelt. So zum Beispiel Studien über die gewandelte Religiosität der Leute (die Rezipienten) , Materialien über die verschiedenen kirchlichen Presseerzeugnisse, und dann beobachte ich auch sehr breit, wie in der säkularen Presse über Kirche, Religion und Glaube gesprochen wird. Vor allem in Deutschland gibt es zudem eine reichhaltige Literatur über Kirche und Medien.

Was hat Mystik, Esoterik und Theosophie in der Kirche verloren?
Aber da ist irgend etwas, was mich noch zögern lässt, mit der Sache ernstlich zu beginnen. Erlauben Sie mir, dass ich diesem Zögern, das mich gerade in diesen Tagen der Muse einholt, noch etwas nachsinne. Es hat mit der Treue zu dem zutun, was wie ein roter Faden durch mein Leben geht und mit dem ich mich auch Ihnen, Herr Wehr, verbunden fühle.
Nach einem strengen Arbeitsjahr, in dem wir ein neues Layout und eine wohl einmalige Erweiterung des Platzangebots für die Gemeindenachrichten eingeführt haben, wurde es mit der Arbeit seit einigen Monaten wieder ruhiger. Da habe ich mich für unsere jüdisch-christliche Arbeitsgemeinschaft zur Verfügung gestellt, über Jüdische Mystik zu referieren, ein Thema, das ich im Studium als Schwerpunkt in der Religionsgeschichte ausgewählt hatte. Damit war ein Anfang gemacht, mich wieder vermehrt mit „Spiritualität“ zu beschäftigen. Gershom Scholems Schriften zeigten mir, welche Tiefen, aber auch elitäre Welten sich hier auftaten. Ähnlich wie bei meiner früheren Beschäftigung mit der Anthroposohpie stellte sich die Frage, ob das etwas für die breite Bevölkerung ist. In Bubers Chassidischen Geschichten aber fand ich wieder jene lebensvolle und erdnahe Frömmigkeit, in der die Erkenntnisse und Haltungen der Mystik inkarniert wurden in die Gemeinde, in das Zusammenleben der Menschen.
Ich erzählte damals unserm Kirchenratspräsidenten, der energisch und bedacht eine Erneuerung unserer Kantonalkirche anstrebt, von der Mission der Mystik, wie sie mir von den Chassidim und ihren Meistern wieder entgegengetreten war. Was mir von seiner Reaktion blieb: Ich hätte da ein gar hohes, sogar autoritäres Bild von Geistlichkeit. – Vielleicht ist es wirklich anachronistisch, auf einen geistlich ansteckenden Schwung von unsern Pfarrern und Pfarrerinnen zu hoffen oder auf spirituelle Anregungen zu Zeitfragen von Behörden und Spezialisten zu warten.
Als Präsident einer Städtischen altehrwürdigen Bildungsinstitution musste ich mich zu dieser Zeit daran machen, einen weiteren Vortragszyklus zu organisieren. Mir schwebte ein Programm vor, das von jenem Rahner-Wort ausgeht, wonach der Christ der Zukunft Mystiker sein werde. In der Kommission, die das Programm mitbespricht, fand die Idee wenig Anklang. Mystik, so war der Grundtenor, sei etwas für Spezialisten, für besonders Interessierte. Damit würde man keinen Saal füllen. Es wurde gewünscht, dass der Zyklus ein Beitrag wird zum 200-Jahr-Jubiläums unserer Kantonalkirche im Jahr 2003, nicht mit historischem Schwerpunkt, sondern mit Blick auf Gegenwart und Zukunft.
Trotzdem liess mich das Thema Mystik nicht ganz los. Ich begann Schweizerische und St.Gallische Kirchengeschichte zu studieren. In einem Werk vom Kirchengeschichtler Paul Wernle von 1925 fand ich spannende Kapitel über die Zeit damals: „Die katholische Reaktion der Mystik“, „Die Reaktion des Irrationalen; Theosophie und Magie“ und dann „Hans Kaspar Lavater“. Es gab auch in unserer Gegend Kreise, die Böhme verehrten, Saint-Martin lasen, Mesmers animalischen Magnetismus erforschten oder sich um Swedenborgs Schrifttum scharten. Es gab auch einige markante Gestalten, die reisten, die ihre Schüler besuchten – oft verbotenerweise, wie in der reformierten Stadt St.Gallen, wo ein eher kirchlicher Pietismus und die Orthodoxie dafür sorgte, dass die Seher und Alchemisten, die es gab, bloss im Verborgenen wirken konnten.
Ähnlich scheint mir die Situation bis heute von Seiten der Kirche. Es wird zwar auch Zen-Meditation angeboten, es gibt Kurse mit spirituellem Flair und vereinzelt über Exponenten der Mystik. Aber für die eigentlich theosophisch Weltsicht, für neue Gnosis oder fundierte Esoterik ist in der Kirche wenig Raum. Die lebt und wächt ausserkirchliche. In der Kirche wird sie bei Mitgliedern geduldet und Amtsträger mit derlei Interessen (wenn sie sich überhaupt bei der Kirche als Arbeitsgeber verdingt haben wie ich), haben gelernt, sie zurückzuhalten, wo sie mangels Pflege und Austausch auch verkümmern können.

Verkümmern? Ja, früher, da habe ich Yoga gemacht, ich habe in der Bibel, in taoistischer Literatur, Ramakrishna und Vivakananda mit Erfurcht und Rührung gelesen. Auch Bo In Rah, Iranschär, Jakob Lorber … Dann war ich auf Pilgerreise über Land nach Indien, zweieinhalb Jahre. Habe die Frömmigkeit des Islam gekostet, hinduistische Tempel besucht, in Bhudgaya mit Buddhisten meditiert und wieder daheim in einem anthroposophischen Heim Steiners Schrifttum aufgenommen, dann während dem Studium auch Böhme, von Baader, Cusanus, Raimundus Lullus. Und ich war immer wieder mit Herbert Witzenmann, der die philosophische Seite der Anthroposophie asketisch streng und diszipliniert gelehrt hat. Schliesslich zum Abschluss des Studiums das Eintauchen in Troxler. Dabei gab es Zeiten, wo ich fleissig die „Rückblickübung“ machte, angeregt von Rittelmeier auch das „Unser Vater“ als geistliche Übung … aber gerade bei Witzenmann und bei Troxler wurde ein Organ geweckt, das mir das Denken selbst als geistliche Übung oder Tätigkeit erleben liess. Darum vielleicht habe ich in den letzten Jahren kaum mehr gebetet und meditiert?
Aber es haben mich auch andere Notwendigkeiten eingeholt. Als Redaktor stand ich plötzlich in der Öffentlichkeit. Jetzt musste ich mich den konkreten Gegebenheiten unserer Kirche stellen, musste verstehen, wie alle Organe entstanden und aufgebaut sind, was die Kirche und ihre Komponenten wollen und tun, wie sich theologische Themen populär machen lassen in einer Mitgliederzeitung, die in jedes reformierte Haus geht. Und ich fand überhaupt Interesse an der Medienlandschaft, die ihre eigenen Gesetze, Kämpfe und Entwicklungen vollzieht.

Was hat in all dem Theosophie, Mystik, Esoterik, Anthroposophie zu suchen?
Manchmal kommen echte Zweifel. Die Welt lebt auch ohne das ganz gut, vielleicht sogar besser. Denn es gibt in all diesem Geheimwissen viel Anmassung, Überheblichkeit, auch Täuschungen und Eitelkeiten. Solange hier keine Klarheit an den Tag kommt, muss das alles in Zirkeln und Privatclubs bleiben. Lieber ein gesellschaftlicher Diskurs auf Grund fester Fakten als ein öffentlicher Zirkus, wo sich viele als Heilsbringer aufspielen und letztlich Zwietracht säen, wie ja auch die Religionen über Jahrhunderte unfähig waren, auf Grund ihrer Offenbarungen sich zu befrieden. Die Aufklärung und Säkularisierung sind eine Wohltat. Lassen wir die Schwärmer machen, solange sie sich nicht mit ihren Heilsbotschaften als Führer der Vielen aufschwingen.
Ja, ich habe mich in den letzten Tagen manchmal fast geschähmt über meinen missionarischen Drang, über das noch immer nicht verstummte Gefühl, mit meinen Erfahrungen in Mystik und Esoterik die Kirche beglücken zu müssen. Zur Steigerung meiner Geltung? Wo ist da die Bescheidenheit, die Gelassenheit, das Vertrauen in Gott und sein Kommen.
Also, sagte ich mir dann: Pflege deinen Garten, liebe Deine Frau und schaue zu den Kindern, geh mit dem Hund spazieren, mache deine Arbeit recht und gut, sei freundlich zu allen Menschen, pflege Freundschaften, schaue zu deiner Gesundheit, mache Musik, singe, zeichne und male – ist das alles nicht genug?
Darum ist es wohl besser, wenn ich nicht von der Frage ausgehe, was die Mystik in der Kirche verloren hat, sondern was sie mit mir zu schaffen hat. Was will ich eigentlich damit? Was ist mir davon wichtig für mich? Was bringt sie mir?
Ich habe in diesen Tagen einige Bücher wieder aus dem Regal gezogen und da und dort gelesen. Der Sohar war mir schlicht zu anstrengend, zu unverständlich. Dann gibt es viel Seichtes von irgendwelchen einzelnen Sehern und Seherinnen, Lehren, die sich kaum an eine Tradition anschliessen, eher Privatoffenbarungen. Ich kaufte vieles davon in den letzten Jahren, um wenigstens ein wenig zu verfolgen, was da abläuft. Da gibt es zwischendrin aber auch echt Erhebendes. Vor allem die Leichtigkeit, mit der da und dort über Letztes gesprochen wird, fasziniert mich und stösst mich doch wieder ab. Jedes Buch wird seine Kreise finden. Und dieser Kreise werden immer mehr. Früher waren es grosse wachsende Kreise, wie man sie im Wasser nach dem Einwurf eines grossen Steines beobachten kann. Heute ist es, als würden Kinder fortwährend Kies in das Wasser werfen. Man erkennt kaum mehr die Kreise, es sind so viele. Uns sie verfliessen alle ineinander.
Dann aber stosse ich wieder auf echtes Urgestein: „Lazarus komm heraus“, drei Schriften von Valentin Tomberg. Ich lass gestern nur einige Seiten über das Vergessen, das Schlafen, den Tod und das Erinnern, das Wachen und Auferstehen. Er beschreibt alltägliche Phänomene, in denen wir leben. Er beschreibt sie nachvollziehbar , sodass ich meine Vernunft nicht ausschalten, sondern in ihrer Tiefe gebrauchen muss. Und es wird darin der grosse Zusammenhang des Lebens transparent. Die Gedanken gingen mir nach. Warum wirken solche Worte so viel klärender und erschliessender als all die Predigten der Kirche, die ich mir dann und wann anhöre? Es ist das ungenaue, was mich an der Theologie und der Kirche immer wieder stört, diese Mischlogik, die sich an das Wohlgefühl der Menschen wendet, es aber mit dem dürren Brückenschlag von moderner Rationalität und biblischer Mythologie nicht schafft, den Menschen das geistliche Brot zu reichen.
Und wie ist es mit dem andern grossen im Kreis der Meister? Es ist seltsam: Ich habe das Geheimwissen, wie es Steiner oder Max Heindel (Rosenkreuzer) bietet, in vielem aufgenommen. Ich habe irgendwann aufgehört damit. Einerseits hatte ich vielleicht das Gefühl, ich wisse es jetzt. Andererseits blieb das zweifelhafte Gefühl (nicht nur bei den Repräsentanten dieser Schulen, sondern auch bei mir selber), damit bloss um einige Gedanken schwerer geworden zu sein. Ich hatte Anthroposophen gehört, die das alles so exakt daherplaudern konnten, dass es mir vorkam wie das „tönende Erz oder die klingende Schelle“, von der Paulus in Römer 13 spricht.
Auch jetzt lese ich manchmal bei Heindel oder Steiner, aber nur in kleinen Portionen. Es tut gut, eine Weltsicht zu denken, in der Schöpfung, Inkarnation und Entwicklung organisch und geistvoll vorstellbar ist. Aber genau diese Vorstellbarkeit durch Gedanken kann bisweilen den Geist des Lebens überlagern.
Es geht im christlichen Glauben ja nicht um die Erkenntnis der Welt, sondern um die Gemeinschaft mit Gott. Diese jedoch meine ich manchmal im Gedanken selbst zu spüren, wie ich es bei Troxler und Herbert Witzenmann gelernt habe. Nicht dass der Gedanke Gott wäre, aber im Gedanken kann der Geist lebendig werden wenn die im Christusimpuls vermittelte Ichkraft durch die Sinne hindurch zur Schönheit, Güte und Wahrheit der Welt erwacht als zum hellen Zusammenhang der neuen Schöpfung (tönt recht anthroposophisch?).
Ich winde mich, stottere geistig und merke im hilflosen Formulieren doch, dass ich hier an einer für mich wichtigen Stelle angelangt bin. Denn auch diese Art der Gotteserfahrung im eigenen Denken braucht ihr Menschenbild, ihr Selbstverständnis, womit doch wieder die Notwendigkeit des mystischen Menschenbildes, der esoterischen Weltsicht sich zeigt.
So wie die Kirche lehrt, dass sie das Evangelium den Menschen bringen muss, damit sie Gott begegnen können, so muss die mystische Gotteserfahrung vorbereitet werden durch mystische Lehre.
Aber nun: Brauchen die Menschen eine neue Grundlage für eine neue Gotteserfahrung? Wieviel und welche Art von esoterisch-theosophischer Lehre ist wie in der Breite vertretbar, um welche Art von Gotteserfahrung neu zu ermöglichen. Und was kann die Kirche dazu beitragen?
Also: vielleicht bin ich doch meinem Thema auf der Spur. Den kürzlich dachte ich auch, dass ich als Theologe von der Offenbarung auszugehen habe. Da sind nämlich alle Geheimnisse der Gottesbeziehung und Gotteserfahrung irgendwie angedeutet. Und es gibt auch den Zeitbegriff insofern, als diese Offenbarung sich in der Zeit fortsetzt, eine Entwicklung durchmacht mit der Entwicklung des Menschen. Oder anders formuliert, dass die Geschichte der Gotteserfahrung, der Wandel, wie Gott sich mitteilt, die Entwicklung des Menschen ausmacht und bestimmt.
Darauf hin müsste ich einmal die Bibel wieder lesen, ob es zum Beispiel tatsächlich möglich ist, von einer dreifachen Gliederung zu sprechen, einer Zeit des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Und was die je verschiedenen Arten wären, wie Gottesbeziehung entsprechend vorbereitet wird durch Unterricht und Vorbild, durch Lektüre oder was auch immer.
Wir brauchen eine Theologie, die genau erfasst, wo und wie der Mensch heute in der Welt und vor Gott steht, um daraus erst zu fragen, was Kirche kann und tun soll.
Nun wird das ja sicher versucht von den vielen Meistern der Theologie. Aber es kommt davon so wenig an bei der Basis der Kirche oder bei den Einzelnen. Die Menschen lesen keine theologischen Abhandlungen und was die Kirche an populärem Schrifttum hervorbringt, behagt dem Publikum oft nicht. Am ehesten hat es Sölle geschafft, an der Basis wahrgenommen zu werden. Ihre neusten Bemühungen, Politik mit Mystik zu verbinden, haben mich bis jetzt aber noch nicht zum Lesen gereizt. Drewermann geht über die Kirche hinaus, teils gegen sie, um eine psychologisierende Spiritualität zu lehren, die mich als anthroposophisch geschulter Leser schmerzt. Und viele der psychologischen Esoteriker, die ihr Publikum finden, haben in meiner Sicht zuwenig den Anspruch, das ganze des Lebens, auch den Kosmos der Wissenschaft, zu bekehren. Sie kommen mir vor wie die abgesonderten Pietisten, die die Welt Welt sein lassen und statt in Bibelstunden in workshops das eigene Wohlbefinden pflegen.

Nun, so habe ich diesen Brief an Sie geschrieben, um meine Gedanken etwas zu ordnen, in der Hoffnung, endlich zu finden, wo ich meine Energie darauf richten will. Eine Dissertation über Troxler, über Publizistik als Zweig der praktischen Theologie oder gar eine theologische Arbeit über das Zeitalter des Geistes, eine Symptomatik des Zeitalters im Hinblick auf mögliche Gotteserfahrungen? Oder soll ich im kleinen Arbeiten, mit journalistischen Texten zu diesem und jenem Thema, auch für grössere Zeitungen oder ein brauchbares handliches Buch über die philosophisch-anthropologischen Grundlagen der Gotteserfahrung?

Nun, das ist mein Problem. Danke, wenn Sie bis mir bis hierher gefolgt sind.

Nun aber doch noch ein konkrete Anfrage, die alles, was ich Ihnen hier geschrieben habe, auch für einen überprivaten Anlass fruchtbar sein lässt. Ich würde mich freuen, wenn sie an unserm Reformationssonntag, am 3. November 2002, 17 Uhr, oder am darauf folgenden Montag, 20 Uhr, in unserer Stadtkirche die Reformationsansprache halten könnten. Ich lege Ihnen noch ein Papier bei, welches das Evangelisch-reformierte Forum St.Gallen vorstellt und auch etwas über den feierlichen Anlass sagt, der seit 1919 in St.Gallen stattfindet und schon von namhaften Leuten bestritten worden ist. Das Thema dieser Ansprache würde ich gerne mit Ihnen besprechen, telefonisch , über E-mail oder persönlich – ich würde auch einmal in unser Nachbarland reisen. Aber für mich wäre es wichtig, dass sie die Reformation zum Ausgangspunkt nehmen für die stete Reformation, von der Reformierte so gerne sprechen. Was heisst semper reformandum für die Gegenwart unserer Kirchen, nicht zuletzt im Hinblick auf all die Fragen, die ich oben aufgeworfen habe. Braucht die Kirche ihre esoterischen Traditionen, um durch sie ihre Mission neu zu verstehen. Oder ist Mystik, Theosophie und Esoterik aus der Sache heraus etwas, das sich mit Gemeinde und Volkskirche nicht verträgt, das bloss Einzelne beflügeln kann? Wie ist das mit dem Rahner-Zitat, wonach der Christ der Zukunft ein Mystiker sein werde? Gibt es Anzeichen dahin? Oder: Hat die reformierte Kirche eine besondere Affinität, eine Tendenz zu einer gewissen Ausrichtung der Mystik?
Sie dürften hier in St.Gallen auch etwas provozieren und zu Knacken aufgeben. Man ist in der reformierten Tradition offen, auch Unorthodoxes anzuhören, eher als im Luthertum, wo mir doch viel Konformität entgegenkommt. Und man ist in unserer Kirche bereit, gründliche Neuerungen unter dem Motte „St.Galler Kirche 2010: Nahe bei Gott, nahe bei den Menschen“ in die Wege zu leiten.
Die Reformationsfeier hat immer eine gute Presse. Ich müsste um eine gute Einladung besorgt sein, da ihr Name hier nicht so vertraut ist.

Drei Tage sind verstrichen. Inzwischen habe ich über die Rummelsberger Anstallten auch Ihre Adresse ausfindig gemacht und der etwas lange geratene Brief kann abgeschickt werden.
Von den Ihnen vorgetragenen Überlegungen ist bei mir hängen geblieben, dass ich vielleicht doch ein handliches Büchlein darüber machen könnte, was Troxler in seiner Zeit sah und inwiefern das heute noch oder wieder aktuell ist. Es wäre ein Büchlein für Studienanfänger, die bereit sind, einmal mitzuerleben, was Wissenschaft in der Tiefe auch sein kann, wenn man auf deren Bedingungen im Menschen hinlauscht. Dass dort in der Tiefe die Philosophie und damit die auch die Wissenschaft an dem Punkt tätig und erlebend mit dabei sein kann, wo der Himmel und die Erde sich berühren, verbinden und zur neuen Schöpfung hin sich öffnen, ist ja auch etwas Wunderbares und Erhebendes, was das Studium beflügeln kann.

Mit freundlichen Grüssen, Andreas Schwendener